Graubünden, ein Marathon und Zahnpasta.
Sommersportler werden im Winter gemacht. Diese alte Trainerweisheit gilt auch im Jahr 2019 noch. Und da für den einen oder anderen Gast aus dem Laufladen Erfurt heuer noch große Herausforderungen anstehen, bot sich ein alter, bekannter Höhepunkt in der Vorbereitung an. Die Rede ist vom 51. Engadiner Skimarathon im wunderschönen Graubünden. Eingebettet auf einer Hochebene von über 1.700m über Meereshöhe ist die Gegend um St. Moritz weltbekannt für Höhentrainingslager, vertauschte Zahnpastatuben, die 4.000er Berge des Bernina-Massives und eben einen der größten Skiwettbewerbe dieser Erde. Die klassichen 42 Kilometer gilt es zu überwinden mit Start in Maloja und Ziel in S-chanf. Gefahren wird in der freien Technik, was soviel bedeutet wie freie Wahl zwischen Skating oder der klassichen Technik in der gezogenen Loipe. Ausverkauft war er schon lange, dieser 51. Engadiner. Weit über 14.000 Teilnehmer haben sich angekündigt. Ein kleiner Teil davon sollte aus Erfurt kommen.
Akklimatisierung in der Höhe
Bevor es mit der Reisegruppe in die Loipe geht, heißt es erst einmal akklimatisieren. Knappe vier Wochen nach dem Doppelstart über die jeweils 50 km beim Schneegestöber des König Ludwig Laufes hält sich die Lust noch in Grenzen. Aber das Engadin wartet mit schönstem Sonnenschein und die Nachhut der Laufreisegruppe braucht noch drei Tage bis zum Eintreffen. Wir schnallen also die Felle unter die Alpinski und laufen zum Berghaus Diavolezza. Dass die Luft auf 3.000m N.N. dünn wird merkt man schnell. Dafür entschädigt die Aussicht auf die weiße Hölle vom Piz Palü, Bellavista und Bernina. Angedacht ist ein paar Tage später eine geführte Skitour mit den Gästen über den Gletscher hinauf ins Berghaus. Aussicht und Jacuzzi inkludiert. Wir sitzen schon einmal Probe und genießen die schweizer Gastlichkeit mit multilingualem Einschlag unweit der italienischen Grenze.
Der diesjährige März in der Schweiz bedeutet gefühlte 40°C über Null in der Sonne. Das macht das Warten auf die Reisegruppe zwar erträglich, führt aber dazu, dass die 50er Sonnenmilch ziemlich schnell leer wird. Parallel dazu werden die Loipen immer sulziger. Da aber diesen Winter so viel Schnee gefallen ist, dürften die Reserven lange halten. Der Reisebus aus Erfurt kommt. Es gab wohl noch ein paar Kontrollen an der Grenze auf Grund des Erfurter Kennzeichens. Die Praxis Schmidt aus dem Erfurter Norden lässt grüßen und immerhin läuft ja die nordische Ski-WM noch. Bevor es aber in die Unterkünfte geht, werden die langen Latten angeschnallt. Die Füße kribbeln schon und sehnen sich nach dem weißen Schnee. Zum Einlaufen reichen 15 Kilometer. Der Loipenpass wird gekauft. 30 Franken sind nicht wenig für eine Woche aber dafür erwarten uns täglich auch bestens präparierte Loipen. Mehrfach fahren die Pisten Bullys und ziehen alles gerade, was nicht nach perfekter Diagonalspur aussieht.
Toko Ahoi – neues vom Waxer
Tagsüber wird es angenehm warm. Nachts kommen die Niederschläge und tiefen Temperaturen. Für die meisten Teilnehmer ist der diesjährige 51. Engadiner Skimarathon absolutes Neuland. Einige haben sogar erst vor einem Jahr mit dem Langlaufen angefangen und wagen sich jetzt auf die 42 km lange Strecke. Da ist es wichtig, sich vorab schon einmal die Strecke anzusehen. Mit dem Auto geht es zum Start nach Maloja. Die erste Hälfte der Originalstrecke stehe auf dem Plan. Dank Rückenwind geht es schnell in Richtung Sils über die Seen nach St. Moritz und weiter nach Pontresina. Die Stazer Abfahrt wird noch einmal besonders in Augenschein genommen um auch die letzten Ängste zu nehmen. Vorbei am Schild für den Halbmararhon geht es zurück in die Unterkunft. Langlaufen ist auch immer Handarbeit. Das merken wir am Abend, als wir vier Stunden mit Toko Waxschürze im Keller stehen und uns zwischen rotem Wax, Bügeleisen und Bürste abwechseln. Am nächsten Morgen laufen die Latten aber wieder tadellos. Es ist Faschingsdienstag und zur Überraschung wird die Sporttasche mit den orginalen Rennanzügen aus den 80er und 90er Jahren ausgepackt. Wie die Karnarienvögel geht es am nächsten Tag auf die zweite Etappe von Samedan ins Ziel nach S-chanf und zurück. Ob wir mit der Bekleidung einen neuen Trend für den Winter 2019/2020 setzen? Schauen wir ´mal…
Nach den ersten drei Tagen in der Höhe heißt es zu regenerieren und noch ein wenig an der Technik zu arbeiten. Vormittags geht es um das Bogentreten in der Abfahrt, Wiederholung der 1:1er-Technik, Doppelstockschub und den Wechsel der Führarmtechnik. Es ist doch immer wieder gut, seinen persönlichen Skilehrer im Laufladen zu haben. Das Wort Buslenker wird dem einen oder anderen Teilnehmer wahrscheinlich noch in 20 Jahren wie aus der Pistole geschossen kommen, wenn es um die richtige Armhaltung in der Kurvenfahrt geht. Am Nachmittag wechselt das Wetter und wir gehen zur Startnummernausgabe ins Marathon Village St. Moritz. Auch hier finden wir eine perfekt Organisation vor. Zeigen des digitalen Codes und schon hat man neben der Startnummer gleich die persönliche Benachrichtigung per SMS von der Zeitmessfirma, dass man sich freut, den Teilnehmer an der Startlinie begrüßen zu dürfen. Am Abend wartet dann der nächste Höhepunkt. Als Verfechter des selbstgebrauten Läuferbieres haben wir für die Teilnehmer eine Degustation in der Engadiner Brauerei, Pontresina organisiert. Vom Palü, Bernina, Morteratsch über ein IPA namens Trais Flores bis zum schwarzen Black Boval gibt es vieles zu erfahren von den lokalen Besonderheiten. Hintergründe zur Entstehung der Bierkreationen, schweizer Bierkartelle, Platzmangel aufgrund politischer Visionslosigkeit und die Bedeutung von regionalem Markenbewusstsein zeigen uns wieder einmal, in welche Richtung sich Tourismusorte bewegen können. Spannend ist auch die Tatsache, dass die deutsche Brauerei Schneider Weisse eine eigene Flasche inklusive ansprechendem Etikett für den Engadiner Skimarathon kreiert hat. Chapeau!
Internationaler Frauentag
Während wir am Vorabend zur Degustation waren, schickte uns Frau Holle satte 60cm Neuschnee. Das war optimal, denn zwei Tage vor dem großen Wettkampf wartete noch eine Skitour zum Frauentag. Auf Grund der Neuschneemenge und der daraus entstandenen Lawinengefahr ging es spontan in Richtung Diavolezza und ins Val Champagne. Professionell wie wir sind gab es die Tage davor noch eine Einweisung und Training in die Lawinensuche mit Schaufel, Sonde und Suchgerät. Am internationalen Frauentag ging es nun hinauf auf fast 2.500m. Das Spurkommando vorweg durch feineste Becherkristalle pulverisierten Schnees. Eine Stille, wie sie nur noch selten zu finden ist. Nur unterbrochen vom Zwitschern der Vögel. Die Sonnencreme zerläuft buchstäblich im Angesicht dieser wunderschönen und bezaubernden Landschaft. Vielleicht liegt es aber auch nur an den Temperaturen, denn schon wieder müssen wir notgedrungen im Unterhemd durch den Tiefschnee weiter. An einer einsamen Almhütte angekommen, bekommen die Mädels einen typischen schweizer Apereó mit Käse und Schoggi. Dann geht es noch einmal in den 2.5m tiefen Schnee. Wiederholung der Arbeit mit Sonde, LVS und Schaufel und Erstellung eines Schneeprofils stehen auf dem Plan. Ausbildung ist wichtig – auch auf einer Laufreise. Hinab geht es dann aber ohne Felle deutlich schneller.
Wettkampf mit 28.000 Ski
Tags darauf heißt es noch einmal Erholung. Mit 65km/h jagen wir im Schlitten die Piste runter. Nicht gerade förderlich für eine unmittelbare Wettkampfvorbereitung aber ein Spaß allemal. Danach heißt es endgültig: Füße hochlegen und die Ski final präparieren und früh ins Bett. Der Wecker klingelt um 04.30 Uhr. Frühstücken, Effektensack kontrollieren und ab in Richtung Bahnhof. Mit dem Bus geht es zum Start von St. Moritz nach Maloja. Einlaufen, Skianzüge anziehen, Dixi aufsuchen und den Kleiderbeutel abgeben. Die Elite ist längst auf der Strecke als wir uns in den Startblock begeben. Der Wind bläst aus Süden. Das ist nicht nur gut sondern heute wunderbar – gibt es doch Rückenwind. Die Teams sind aufgeteilt. Unsere Klassikstarter gehen es entspannt von hinten an. Die jungen Spunde weiter vorn wollen unter die drei Stunden kommen. Schwierig ist eigentlich nur das Gewusel durch die Massen an Skilangläufern. Die ersten Läufer stürzen noch vor der Startlinie. Knapp dahinter liegen die ersten gebrochenen Stöcke auf der Loipe. Die Mehrzahl läuft natürlich im Skatingschritt. Dennoch orientieren wir uns in der klassischen Spur und ballern sprichwörtlich wie die Raketen über die vereiste Diagonalspur. Es fühlt sich an wie im Oberhofer Eiskanal hinunter. Fünf Kilometer im Doppelstock geht es nach Sils Maria. Ständige Spurwechsel. Dann geht es in die Skatingloipe und wie bunte Blitze huschen wir in unseren 80er-Jahre-Anzügen um die Kegel aus Langläufern der vor uns gestarteten Blöcke. Das Wax unter unseren Bindungen schreit nach mehr, will mehr aber die Pulsuhr sagt schon 90% der maximalen Herzfrequenz an. Also versuchen wir uns im Zustand des Flows, dieser seltenen Balance zwischen Anspannung und Beherrschen des eigenen Könnens, hinzugeben. Vorbei an der ersten Verpflegungsstelle und kein Blick für den Streckenrand. Schnell wird ein Stück Ovomaltine Schokolade genommen bevor es in den hügeligen Teil nach St. Moritz geht. Vorher laufen wir auf die Nachwuchsnationalmannschaft der Jungend auf. Am Berg heißt es ersteinmal pausieren. Auch das ist der Engadiner. An vielen Anstiegen kommt es zum Stau – logisch bei 14.000 Läufern und überhaupt nicht schlimm. Die Abfahrt nach Pontresina hätten wir gerne im Schuss genommen. Das geht aber leider nicht mangels Buslenker-Fahr-Fähigkeiten unserer Umgebung. Spätestens ab dem Halbmarathon ist die Bahn frei. Flughafen Samedan, Rückenwind und eine gute Tagesform machen Spaß. Auf die Uhr schauen wir besser nicht mehr. Gut, dass der Alarm für die zu hohe Herzfrequenz ausgeschaltet ist. Aber manchmal muss ein Läufer das tun, was ein Läufer tun muss – laufen. In La Punt geht es einmal quer durch das Dorf. Ein Becher Bouillon später kommen die Golan Höhen. Diese letzten 10 KM haben schon einige gebrochen. Wir schieben heute fast durchgängig im 1:1er und Doppelstock an der Meute vorbei. Bergab geht es ohne Stöcke im Schlittschuhschritt. Es wirkt als hätten wir das perfekte Wax unter der Bindung. Die letzte Kurve naht und plötzlich ist das Zieltor da. Fast hätten wir die zweieinhalb Stundenmarke geschafft. Egal. Ski abgeben. Kleiderbeutel empfangen. Das dauert etwas länger, weil die Soldaten der Gepäckausgabe noch nicht mit Läufern aus dem letzten Startblock gerechnet haben. Duschen in der Mannschaftsunterkunft und endlich was trinken. Zwischendurch waren wir froh über unsere dünnen Anzüge und das Merino Unterhemd. Denn zu kalt war uns bestimmt nicht. Nach 4:50h kommt auch die Nachhut von uns im klassichen Stil über die Ziellinie. Zur Belohnung gibt es nicht nur das exklusive Schneider Weisse sondern natürlich auch ein Palü und am Abend ein typisches Schweizer Fondue Chinoise.
Beschwerden? Wehwechen? Erfahrungen!
Was bleibt, ist die Gewissheit, dass die Organisatoren des 51. Engadiner Skimarathons einen perfekte Lauf veranstaltet haben. Vom Spannungsbogen der Marathonwoche im Vorfeld mit Frauenlauf, Nachtlauf, Nachtsprint und einem breiten Rahmenprogram hat einfach alles gepasst. Wer uns kennt, weiß, dass wir immer ganzheitlich denken und gerade die Sportart Skilanglauf sollten Läufer als Alternative für die kalte Jahreszeit in Betracht ziehen. Training in der Gruppe und das Üben nicht bekannter Bewegungsmuster schützen langfristig vor Verletzungen und Überlastungen. Daneben kommt im Engadin auch der Genußfaktor nicht zu kurz. Abseits der sowieso nicht überfüllten Loipen ist es mancherorts menschenleer. Entspannung im alpinen Umfeld oder rasende Schlittenfahrten. Vegetarische Aperós oder deftige bündener Küche. Für jeden Sportler dürfte etwas dabei sein. Am Ende bleibt aber nicht nur der Muskelkater aus vielen Höhenmetern und Lopienkilometern sondern auch ein wenig Teint im Gesicht und ein breites Grinsen, dass wir 2020 knapp hinter der Elite in die Loipe dürfen. Allegra!